Ausgangspunkt für die Reise und die Routenplanung war der Bericht in der Zugpost „Mit dem Nachtzug nach Sizilien“. Die Beschreibung einer langen Zugfahrt, bei der es nach dem Aufwachen stundenlang am Meer entlang weitergeht, ging mir nach dem Lesen nicht aus dem Kopf. Außerdem gab es noch meinen Vorsatz, mich für die nächsten 3-5 Jahre auf Italien als Urlaubsland zu konzentrieren und die Sprache zu lernen. Nachdem die Reisebegleiterin genauso fasziniert vom den Blogbeitrag über den Nachtzug war und wir ja auch schon diverse gemeinsame Zug-Tagesausflüge nach Kiel gemacht hatten, kamen wir auf die Idee, auch mal nach Sizilien zu fahren.

Der Nachtzug startet in Mailand. Das ist von Hamburg aus gesehen nicht um die Ecke. Außerdem gilt das Interrail-Ticket jeweils nur für einen Ausreisetag und einen Einreisetag im Heimatland. Damit war klar: Wir müssen die Deutschlandtage effizient nutzen und binnen einen Tages einmal von Hamburg aus quer durchs Land aus Deutschland raus. Nach einem schnellen Blick auf die Karte und den groben Erinnerungen aus dem Geografieunterricht folgend war klar, dass man durch die Alpen – wahlweise durch Österreich oder die Schweiz – muss. Da hatte ich keine Vorlieben und dachte mir: wir haben zwei Reisen, nehmen wir doch einmal Österreich und einmal die Schweiz, denn zum einen mag ich Berge und zum anderen war mir klar, dass ich sowohl auf dem Hin- als auch auf dem Rückweg alles, was außerhalb Italiens liegt, ohnehin nicht als interessanten Urlaub wahrnehmen würde. Ich hatte dafür hauptsächlich „Strecke machen“ im Sinn.

Allerdings hatte ich während der Planungen noch nicht gewusst, was für ein Eisenbahn-Nerd Frau Naja ist und ihr durchaus Schlenker durch Frankreich, Spanien, Kroatioen, Slowenien oder Ungarn nicht absurd vorkommen. Nicht nur, dass sie in unzählige Apps zur Reiseplanung verliebt ist und diese weitaus souveräner als ich aus der „Generation Landkarte“ nutzt, sie ging auch noch in die Bibliothek und legte erstmal alle Bücher über Italien und angrenzende Reisemöglichkeiten vor sich auf den Tisch. Das Gute daran war, dass sie wusste, dass es schönere und weniger schönere Bahnlinien in den Alpen gibt. Ich hätte mich da auf das Prinzip Hoffnung „möglichst wenig Tunnel und wenn doch, dann muss ich das halt akzeptieren“ verlassen. Als sie also sagte „lass mich mal machen, ich suche uns ne schöne Strecke durch die Berge raus“, liess ich sie mal machen und als sich das bewährte, wurde ich immer fauler und überliess ihr weitestgehend das Finetuning der Streckenplanung.

Ihr Vorschlag am ersten Tag nach Chur zu fahren war super. Der erste Reisetag war noch ziemlich doof: Abfahrt im Regen, voller ICE, keine Sitzplätze im gleichen Waggon. Es fühlte sich bis Baden-Baden noch nicht an, wie eine gemeinsame Reise. Aber vielleicht mussten wir auch erstmal ein paar hundert Kilometer zwischen uns und den Alltag bringen, bevor wir überhaupt mit dem Reisen starten konnten. Von Chur haben wir so gut wie nichts gesehen, wir haben dort nur übernachtet. Wir kamen abends an und sind am nächsten Tag nach dem Frühstück schon wieder los. Weil Chur ja nicht Italien ist, habe ich das weder bemerkt noch als störend empfunden. Der Mensch muss eben irgendwann schlafen und das Hostel war ok. Die Bahnstrecke von Chur nach Tirano war auf jeden Fall wunderschön. Wer sonst beim Zugfahren meist auf Schleswig-Holstein oder Mecklenburg schaut oder die Strecke Hamburg-Frankfurt im Schlaf kennt, eine sehr willkommene Abwechslung.

Ich glaube in dem Moment, als mich die Berge in ihrer Schönheit begeisterten, wurde mir erst bewusst, dass Zugfahren auch eine Art Fernsehen ist. Bisher war Zugfahren für mich eher eine „Zeit für mich“, die den gleichzeitigen Vorteil hatte mich von einem Ort zum anderen zu bringen. In meinem Alltag habe ich selten mehrere Stunden für mich oder für eine konzentrierte Tätigkeit, aus diesem Grund mag ich Zugfahren sehr und habe immerhin schon mehrere Bücher in Zügen geschrieben. Ich mag auch das Umgebensein von Menschen, mit denen ich nicht sprechen muss und die gleichmäßigen Geräusche, die der Zug macht. Ich sehe auch immer mal wieder gerne zum Fenster raus, aber die meiste Zeit habe ich bisher bei Zugreisen doch eher auf meinen Rechner, ein Buch oder ein Handarbeitszeug geschaut. Daher kam dann auch die Panik vor der Reise, was ich alles an Beschäftigungsmaterial mitnehmen muss. Im Nachhinein wundere ich mich immer noch über mich, wie wenig ich davon nutze, weil ich tatsächlich dauernd zum Zugfenster herausschaute. Das ging sogar soweit, dass ich mich mehrmals von kleinen Nickerchen abhielt, weil ich keinen Kilometer der Landschaft verpassen wollte, um Italien weitestgehend vollständig zu erfassen. Sobald der Zug aber voll und voller wird, schlägt diese Stimmung bei mir um. Das hatten wir auf der Hinfahrt durch Deutschland, von Tirano nach Mailand, von Bologna nach Bozen und von München bis Würzburg. Sobald zu viele Menschen um mich herum sind, wird es anstrengend. Das konnte ich immer nur dann ertragen, wenn ich mich in diesem Moment an meine Noise-Cancelling-Kopfhörer erinnerte und mich in Musik oder/und ein Schläfchen flüchtete.

Während also die Strecke Chur-Tirano am Vormittag Reisen im besten Sinne war, war Tirano-Mailand dann am Nachmittag notwendiges Strecke-machen, denn es ging eigentlich nur darum, den gebuchten Nachtzug in Mailand zu bekommen. Der Nachtzug Mailand-Syrakus war super. Das würde ich auf jeden Fall noch mal machen und zwar genau so. Auch wenn es sehr eng und etwas stickig war, man konnte einigermaßen schlafen und ein Abenteuer war es ja auch, denn ich war seit Jahrzehnten nicht mehr Nachtzug gefahren und damals auch nur ein paar Mal. Die Fahrt am Vormittag am Mittelmeer lang nach Süden war toll. Im Nachhinein bin ich ein bisschen traurig, dass ich der Reisebegleiterin die ganze Zeit den guten Platz am Fenster überliess, denn ich habe davon gar keine Fotos, aber um diese kann ich sie noch bitten.

Die Erinnerung an das, was wir als Aussicht im Moment genossen haben ist flüchtig. Es bleibt aber das Gefühl, es genossen und erlebt zu haben. Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich zu diesem Zeitpunkt das erste Mal von vielen Malen dachte „wie großartig, dass wir zu dieser Reise aufbrachen, dass wir uns das gönnen“. Es regnete und ob wir wirklich den Stromboli gesehen haben, weiß ich nicht, denn ich konnte von meine Platz aus nicht viel erkennen. Aber dieses Gefühl, eine wirklich lange Strecke am Mittelmeer entlang zu fahren, machte die Entfernung entlang des italienischen Stiefels im wahrsten Sinne erfahrbar und ich erfreute mich sehr an den immer häufiger werdenden Zitronen- und Orangenbäumen.

Da der Nachtzug sowohl nach Syrakus als auch nach Palermo auf Sizilien fährt (der Zug wird geteilt), mussten wir uns im Vorfeld entscheiden. Zunächst nach Syrakus zu fahren, war eine sehr gute Wahl, um erst einmal an- und runterzukommen. Das laute, große und intensive Palermo hätte uns nach dem anstrengenden Alltag vor der Reise und auch der langen Anreise, vermutlich komplett überfordert. Syrakus, wo wir uns hauptsächlich auf der Altstadtinsel herumtrieben, war klein, ruhig und touristisch erschlossen. Außerdem war die Dachterasse wirklich der Hit.

Unsere Unterkünfte hatten wir nach folgenden Kriterien ausgewählt: sobald wir länger an einem Ort sind, gönnen wir uns getrennte Zimmer. Die Unterkünfte sollten eher preisgünstig sein und irgendwo zwischen dem Bahnhof und den relevanten Orten liegen. Besonders auf Sizilien hatten wir den Eindruck, dass Tourist*innen bevorzugt mit dem Auto unterwegs sind – da bestehen natürlich ganz andere Ansprüche (Parkplätze!) und Möglichkeiten (Entfernungen). Auch wenn ich sehr auf das Budget achtete, wollte ich in Syrakus was Schönes. Es war jetzt beileibe keine Nobelunterkunft und mein Bett war eine Zumutung, aber die Dachterasse hat uns sehr gut getan. Das ist ein bisschen so, wie bei mir zuhause. Wenn man im Frühling und Sommer den Balkon benutzen kann, dann ist das wie ein zusätzliches, besonders schönes Zimmer. Ich war sehr froh, dass wir dieses Gemeinschaftszimmer auch in Syrakus hatten, denn der Esstisch im Flur mit dem italienischen gleißendem Licht, war zwar authentisch aber nicht wirklich gemütlich. Hingegen die sonnige Dachterasse mit dem Gefühl, ein bisschen im italienischem Alltag angekommen zu sein und mit nur einer kleinen Kopfbewegung das Meer sehen zu können – toll.

Ich hatte zunächst die Befürchtung, dass vier Nächte im kleinen Syrakus uns zu lang oder langweilig werden könnten. Ich dachte auch, dass wir von dort aus vielleicht mal einen Ausflug in ein andere Städtchen, zum Beispiel nach Noto, machen würden mit dem Vorteil, nach einem Tagesausflug doch wieder im gewohnten Bett zu schlafen. Soweit kam es aber nicht. Vielleicht hätten wir leichter Ausflüge gemacht, wenn wir ein Auto gemietet hätten (das sich dann ja auch rentieren muss), aber ohne Auto wäre es schon wieder aufwendig gewesen, einen Ausflug mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu planen und irgendwie sprachen wir dann gar nicht darüber, sondern liefen einfach durch nur durch das Städtchen. Als wir an dem dritten Tag in Syrakus endlich mal eine Touristenattraktion anschauen wollten (Trümmer) und dann einhellig beschlossen, dass wir gar keine Lust hätten 17 € Eintritt dafür zu bezahlen, wurde mir vollends klar, dass diese Reise ganz und gar nichts mit den vorher durchgeblätterten Reiseführern, Fernsehsendungen und Youtube-Videos von Reiseinfluenzer*innen zu tun haben würde. Das erklärte auch, warum ich zwar immer wieder im Vorfeld das Gefühl hatte, unbedingt so etwas konsumieren zu müssen doch meistens nach kurzer Zeit wieder gelangweilt aufgab. Die Aufzählung von Hotspots in den Publikationen wiederholte sich und fühlte sich schon beim Lesen oder Zuschauen an wie eine Reise von Asiat*innen, die Europa in 3 Tagen erkunden. Gleichzeit schwante mir, dass die schönsten Plätze voller Tourist*innen sein könnte. Zu viele Menschen auf einen Haufen finde ich ohnehin anstrengend und Tourist*innen spielen da noch mal in einer besonderen Liga. Auch wenn es natürlich interessant ist, sich die Trümmer genauer anzuschauen oder man das Gefühlt hat, unbedingt bestimmte Dinge gesehen haben zu müssen – so richtig doll zog es mich zu den Hotspots nicht hin.

Wir haben also auf Sizilien eine ganze Menge nicht gesehen: wir haben den Ätna nicht gesehen, waren nicht in Cefalu, nicht in im Tal der Tempel, nicht in Taormina und und und. Waren wir dann überhaupt auf Sizilien? Wir hätten dort Fotos machen können, wie sie hunderte von Tourist*innen täglich machen, immer die gleichen Motive, abertausendfach gemacht – mit und ohne Selfie. Es ist schwierig. Ich glaube, solche Hotspots sind ja durchaus berechtigt Hotspots, weil es dort besonders schöne oder besonders beeindruckende Dinge zu sehen gibt. Und ja ich weiß, es ist nicht das Gleiche davon gelesen zu haben oder ne Doku im Fernsehen gesehen zu haben. Doch mittlerweile finde ich Tierfilme im TV tatsächlich interessanter, als ein Besuch im Zoo. Natürlich macht das was mit einer, wenn sie tatsächlich vor einer Attraktion steht und sich auf diese Weise mit ihr verbindet. Mich beeindrucken ja auch meist die Größenverhältnisse, die auf Papier oder im Film oft gar nicht so erfassbar sind. Aber die Menschen! Es ist einfach auch stets anstrengend, wenn viele Menschen genau das Gleiche sehen wollen und es kostet auch ne Menge Geld.

Aus diesem Grund konzentriere ich mich lieber auf scheinbar banale Eindrücke, die ich versuche, möglichst achtsam wahrzunehmen. Egal, ob ich eine wirklich längere Zeit irgendwo sitze, die Stimmung des Ortes in mich aufnehme und Mensch und Umgebung beobachte, oder ob ich das lokale Essen probiere und genieße. Der Geschmack der Orangen, die Tintenfische und Garnelen! Der italienische Kaffee, das Angebot im Supermarkt oder auf den Märkten, das Licht, die Geräusche des Meeres, der Bodenbelag von Wegen und Straßen unter meinen Füßen.

Ich habe oft den Eindruck, dass solche Mikroerlebnisse mir noch mal ganz andere Sachen, über einen Ort verraten und ich ganz anders in Beziehung zu diesem Ort gehe. Ganz abgesehen davon, dass ich es einfach sehr amüsant finde, Menschen zuzuhören oder wenn ich sie nicht verstehe, weil sie zu weit weg sind oder ich ihre Sprache nicht verstehe, zu überlegen, worüber sie gerade sprechen. Ganze Soaps habe ich schon erdichtet, in dem ich einfach nur Paare beobachtete. In Herculaneum saß ich so lange an einer Wegkreuzung, dass ich zwei verschieden Führungen erlebte, die ganz unterschiedliche, sich widersprechende Dinge, über eines der Häuser erzählten. Ich weiß zwar jetzt immer noch nicht genau, was dieses Haus mal war, aber es erinnerte mich daran, dass unsere Welt nur sehr subjektiv erfahrbar ist und dass wir uns immer mal wieder daran erinnern sollten, dass das, was wir glauben oder erzählt bekommen viel mehr mit dem erzählendem Subjekt zu tun hat als mit dem Objekt oder der Wahrheit an sich. Das macht Archäologie so spannend und alles andere auch.

Ach, das waren jetzt schon wieder viele Worte und ich bin noch ganz am Anfang der Reise. Also mache ich an dieser Stelle mal Schluß und verspreche noch mindestens einen weiteren Rückblick zur Route zu schreiben.