Mein schönstes Erlebnis im vergangenen Jahr war ein Gespräch bei einer unverhofften Begegnung, das mir aufzeigte, dass viel mehr möglich ist, als ich mir zu Glauben gestatte. Es rüttelte an meiner Selbstwahrnehmung und zeigte ein strahlend warmes Licht am Horizont, das ich weder sehen noch in Erwägung hatte ziehen können. Es veränderte alles. Hoffentlich.
Als ich Anfang November entdeckte, dass ich nach 5 Jahre Üben nun Kraulen kann, habe ich es allen, die es hören oder auch nicht hören wollten davon erzählt. Es war für mich einfach unglaublich, dass etwas, was ich mir vor Jahren vorgenommen hatte, für das ich zwar stetig aber nicht übertrieben ehrgeizig übte, tatsächlich zu einem Erfolg geführt hatte.
Ich staunte über mich selbst und es gab ein paar Wochen immer noch dieses ungläubige Zweifeln, ob es nicht doch ein Zufall, eine Ausnahme oder aber auch eine völlig übertriebene Selbsteinschätzung sein könnte, mein durch-das-Wasser-kämpfen mit so etwas Elegantem wie Kraulschwimmen zu vergleichen. Interessanterweise fühlte es sich eigentlich gar nicht mehr so anstrengend an. Mehr und mehr wurde das Kraulen in jeder zweiten Bahn zu einer Art Selbstverständlichkeit und hätte ich damals schon etwas dazu aufgeschrieben, könnte ich mich auch besser erinnern.
Mitte März fuhr ich zu einem Klassentreffen in die Heimat. Es war ein Grundschulklassentreffen, ganz rührend die alten Wegbegleiter*innen zu treffen, aber im Grunde hatten wir uns nicht so viel zu sagen. Doch ein langes Gespräch, wird mir in Erinnerung bleiben.
D. war ein Nachbarsjunge. Wir hatten nicht viel Kontakt, aber unsere Väter waren befreundet. Es waren parallele Jahre des Aufwachsens, ohne wirkliche Gemeinsamkeiten. Doch wir hatten uns irgendwann Anfang der 2000er mal getroffen, um gemeinsam essen zu gehen. Das war nett, ohne das ich konkrete Erinnerungen daran habe. D. saß bei diesem Klassentreffen auf einmal alleine an einem Tisch, um in Ruhe etwas zu essen. Ich setze mich zu ihm, denn alleine essen ist ja doof. Über was sollten wir uns unterhalten? Ich wusste von einer vorherigen Begegnung im Erwachsenenleben, dass er Triathlon macht, also hatte ich keine Hemmungen von meiner erstaunlichen Kraulerfahrung zu berichten.
Er war interessierter an meinen Erzählungen zum Schwimmen, als vorherige Gesprächspartner*innen. Er zeigte mir im Trockenen, wie ich die Hand beim Armschlag halten könne, warnte mich vor Überlastungen der Schulter, erzählte von ergänzenden Kraftübungen und hatte sogar eine Adresse für mich parat, wo man sich einen Neoprenanzug maßschneidern lassen könnte. Er nahm mich total ernst in meiner Erzählung darüber, wie begeistert ich von meinen Lernerfolg bin und welche Träume ich habe. Dass ich gerne mal bei einem 5 km Freiwasserschwimmen teilnehmen würde, fand er überhaupt nicht absurd, auch wenn ich nicht zu erwähnen vergaß, dass ich aktuell immer so um die 1000 m schwimme.
Er erzählte, dass er auch erst in seinen 40er angefangen hatte, Triathlon zu machen und dass das eben etwas wäre, was er und seine zweite Frau verbinden würde. Er fragte mich, ob nicht auch mein Mann Lust hätte, mit mir zu schwimmen, was ich lachend ob der Absurdität des Vorschlags verneinte. Seine Idee dazu: Mein Mann könnte doch in Urlauben, die wir gerne an Seen planen, damit ich schwimmen kann, mit einem Stand up Paddledings neben mir her fahren. So könne er eine Wasserflasche für mich parat halten, damit ich nicht dehydriere. Er kennt meinen Mann nicht.
Und dann fragte er mich, ob ich nicht Lust hätte, nun das Laufen und Radfahren zu probieren, um bei einem Triatholon mitzumachen. Ich verneinte schnell, doch er gab nicht auf indem er fragte, was für mich denn das Näherliegende wäre: Radfahren oder Laufen. Zögerlich gab ich zu, dass ich tatsächlich ganz gerne mit dem Rad fahre, mich aber nicht als einen Menschen sehe, der mit einem Lycra-Leibchen bekleidet übers Land fährt.
Er begann von seinen Wettkämpfen und Trainings zu schwärmen. Ich liess ihn reden immer noch völlig irritiert von seinem absurden Vorschlag, dass jemand wie ich einen Triathlon auch nur in Erwägung ziehen könnte. Plötzlich sagte er: „Weißt du, wir machen deinen ersten Triathlon zusammen. Ich starte später und wir laufen gemeinsam durchs Ziel. Das ist etwas, was du niemals vergessen wirst!“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Das war ein wirklich nettes Angebot. Aber es war nicht nur das. Sah er denn nicht die dicke Frau vor sich? Zog er wirklich die Möglichkeit in Betracht, dass ich den Mut und die Energie aufbringen könnte auf ein derart entferntes Ziel, das mir nicht weniger absurd wir ein Flug ins All vorkam, zu trainieren? Ich hörte zu, er redete weiter. Er meinte das tatsächlich ernst, denn er begann bereits damit Trainingspläne für mich zu entwerfen.
Später im Bett konnte ich nicht schlafen. War das wirklich passiert? Was hat dieser Mann in mir gesehen? Das konnte doch nicht sein, dass er mich, meinen Körperumfang, meine Pfunde, meinen ganz offensichtlich untrainierten Körper nicht gesehen hat!
Konnte das sein, dass D. jemand ganz anderen gesehen hat? Kann es sein, dass ich viel mehr Möglichkeiten habe, für die ich die letzten Jahre blind war? Wer bin ich, wenn ich nicht die bin, als die ich mich sehe? Ist das alles Spinnerei oder ist da was dran? Könnte es wirklich sein, dass ich eine Sportskanone werde und dass das möglich ist, obwohl ich das bisher noch nie in meinem Leben als eine Option gesehen habe? Was könnte ich noch alles werden? Wie viele Optionen habe ich noch nie für mich in Betracht gezogen, weil ich niemals daran glaubte, dass das etwas für mich sein könnte?
Ein paar Tage danach erzählte ich einer kleinen Gruppe vertrauten Geschäftsfreundinnen von dieser Begegnung. Sie waren berührt und setzten dem ganzen noch eins drauf, indem sie mir bestätigten, dass sie so viele Optionen für mich sehen, die ich gar nicht wahrnehmen würde, egal, ob es sich um einen Triathlon, beruflichen Erfolg oder Themen handelt, die ich bisher nie als spannend empfunden hatte.
Ich bin immer noch verwirrt und gleichermaßen entzückt. Mir war schon früher aufgefallen, dass Zeit und Geld relativ sind. Auch wenn wir oftmals glauben, dass etwas, das man mit Zahlen ausdrücken kann, einen objektiven Wert hat, so hat das Leben mir schon öfter gezeigt, dass es auch alles ganz anders sein kann, als ich annahm. Ich weiß einfach, dass manchmal 100 € ganz viel Geld sein kann, die ich zögere auszugeben und in anderen Fällen haue ich sie raus, weil es sich wenig anfühlt. Und wie deutlich wird, wenn wieder ein Jahr vergangen ist, wie schnell die Zeit vergeht, die sich an manchen Tagen anfühlt wie Kaugummi. Wieso bin ich also davon ausgegangen, dass das Bild, das ich von mir habe, stabil sein könnte und von anderen genauso wahrgenommen wird?
Ich glaube eher nicht, dass es in meinem Leben noch mal einen Triathlon geben wird. Aber ausschließen würde ich es nun auch nicht mehr. Die Lust zieht mich mehr dazu, mich beim Schwimmen weiter zu entwickeln, als loszuziehen, um ein Outdoor-Lycra-Leibchen zu kaufen. Das Freiwasserschwimmen in einem Fluss oder See in Form eines Wettkampfes, an dem andere mitmachen (nur, um daran teilgenommen zu haben, nicht um zu gewinnen), das reizt mich. Dass ich jetzt Kraulen kann, macht es für mich realistischer, aber ich bin tatsächlich nicht sicher, ob das ein Ziel oder ein Traum ist. Aber was ich aus diesem Erlebnis mitnehme ist die Idee, dass viel mehr möglich ist, als ich es mir vorstellen kann und dass tatsächlich andere das besser sehen können als ich. Dafür bin ich sehr dankbar.
@meikesblog oh was für eine wunderbare Geschichte.
Und ich habe in letzten Jahr gelernt, das ganz viel geht, wenn eine sich traut.
Danke, das nehme ich als Ansporn.
@meikesblog ich freue mich schon auf den Triathlon -Bericht!