Mittlerweile finde ich es tatsächlich angenehm, jeden Tag etwas auszumisten. Es ist bei Weitem noch kein Erfolg sichtbar, die Veränderung erfolgt in Mäuseschrittchen. Aber genau dieses Wort „Mäuseschrittchen“ scheint eines meiner Wörter des Jahres zu werden. Wenn ich ehrlich mit mir bin, dann war ich mein Leben lang – von dem Wunsch nach Perfektion weit entfernt – immer zu ehrgeizig, um das Eine oder Andere auf die Reihe zu bringen, weil die Erfolge dann doch nicht schnell genug sichtbar wurden. Das Wort „Mäuseschrittchen“ irritierte und belustigte mich zuerst, dann berührte es mich. Schließlich gestattete ich mir die Mäuseschrittchen zu gönnen. Seit dem bin ich viel entspannter.
Vielleicht ist es nicht die erfolgsversprechenste Methode beim Ausmisten ausgerechnet mit dem Bücherregal weiter zu machen und dabei den Anspruch zu haben, vorher jedes Buch zu lesen. Aber gestern habe ich 6 Bücher in 2 öffentliche Bücherschränke verteilt (3 gelesen, 3 geschrieben) und mich sehr darüber gefreut, dass als ich 2 Stunden später an dem einen Bücherschrank vorbeikam, die Bücher dort bereits fehlten.
Heute habe ich mir ein Buch zur Hand genommen, in das ich beim Kauf meine damalige Adresse und „August 1996“ notierte. Es handelt von Frauenleben und mehreren Generationen und ich war gespannt darauf, es jetzt mit 30 Jahren Abstand noch mal zu lesen, obwohl oder gerade weil ich mich an den Inhalt gar nicht mehr erinnern konnte. Nach knapp 60 Seiten gab ich auf und das Buch wanderte in die „Für-Den-Öffentlichen-Bücherschrank“-Kiste neben der Wohnungstür. Ich konnte auch nach mehr als 50 Seiten nicht herausfinden, was ich 1996 an dem Buch mochte oder ob ich es mochte. Ich kann mich an zwei andere Bücher von Jane Smiley erinnern, aber an dieses nicht. Vielleicht habe ich auch damals schon „Tor zum Paradies“ nicht gemocht, sonst könnte ich mich schließlich erinnern. Vielleicht habe ich es aber einfach zu den anderen Büchern der Autorin gestellt, weil ich keine Bücher wegwerfen konnte. An der Adresse sehe ich, dass ich 3x mit dem Buch umgezogen bin. Jetzt darf es in den öffentlichen Bücherschrank und ich hoffe, dass ich in Zukunft nicht erst nach mehr als 50 Seiten entscheide, dass ich Bücher loslassen kann, die mich nicht berühren.
Das Buch von gestern „Kleine Schwester“ von Borger und Straub habe ich heute morgen fertiggelesen und ich bin froh, wenn es aus dem Haus ist. Heutzutage würde man solche Bücher mit einer Triggerwarnung versehen. Die Geschichte über ein vernachlässigtes Pflegekind hat mich zu stark berührt. Auch dieses Buch hätte ich nicht aufheben sollen, denn ich kann mich erinnern, dass es mir beim ersten Lesen auch so ging. Vermutlich durfte es aus dem gleichen Grund bleiben, wie das Buch von Jane Smiley. Früher empfand ich es wunderbar, das Gesamtwerk von Autor*innen gelesen zu haben und war enttäuscht, wenn ein Buch aus der Reihe nicht so toll war, wie ich es nach dem Lesen der anderen erhofft hatte. Heute schaue ich auf meine Bücher und weiß, dass nicht jedes Buch ein Meisterwerk ist und dass man als Autor*in auch nicht wirklich Einfluss darauf hat. Manchmal sind es die Umstände, dass man ein Buchprojekt beginnt oder zu Ende bringt und nicht die geniale Idee. Und ob das dann ein Erfolg wird, steht sowieso noch auf einem ganz anderen Blatt Papier. Dem Buch von mir, dem ich das wirklich gewünscht hätte, ist es nicht gelungen. Andere waren erstaunlich erfolgreich. Es ist wahrscheinlich wie mit dem zweiten Album von Musiker*innen, darauf liegt auch oft ein Fluch.
Früher war ich stolz auf Sammlungen. Es war meine persönliche Definition von Reichtum, das Werk einer Autor*in vollständig in meinem Bücherregal stehen zu haben. Das ist nicht immer gelungen, weil ich gerade die Bücher, die ich so gerne mochte, oft verliehen habe. Damals hat man das noch gemacht. Als ich „Katzenzungen“ von Borger und Straub in den öffentlichen Bücherschrank stellte, habe ich kurz darüber nachgedacht, ob ich es einer Freundin mitbringe, mit der Katzenzungen aus Schokolade, ein gemeinsames Bon Mot sind. Aber dem Buch sieht man an, dass ich es auf das feuchte Handtuch im Schwimmbad gelegt und mehrfach gelesen habe. Sowas verschenkt man dann doch nicht und dann handelt es auch noch von Freundschaft mit dunklen Geheimnissen. Also wanderte es gestern in den Bücherschrank und nachher gehe ich dort mal vorbei und schaue, ob es noch da ist.
Auf dem Weg zum Schwimmbad gleich, nehme ich die Nähzeitschriften für den Altpapier-Container mit. Damals war ich so heiß darauf und kümmerte mich nicht darum, die Anleitungen nicht zu verstehen, weil ich kein Holländisch konnte. Was war das für ein Schatz. Aber ehrlich gesagt stehen die Nähzeitschriften seit Jahren im Gästeklo und ich habe sie nicht mehr angeschaut. Also weg damit. Heutzutage gibt es das Internet und wenn ich ein bestimmtes Kleidungsstück nähen will, dann ist das so viel einfacher, ein digitales Schnittmuster zu kaufen, als in den holländischen Zeitschriften danach zu suchen. Es fällt mir schwer, mich von den Zeitschriften zu trennen, aber ich weiß genau, dass ich weniger Zeit und Lust habe, nach der Nadel im Heuhaufen zu suchen, für die genau diese Zeitschriften ein Schatz wären und dann die Mühsal auf mich zu nehmen, um diesen Berg zu verschicken. Also weg damit.
Ich habe mir ein Fantasie-neues-Leben-Ziel ausgedacht und bei jeden Ding, das ich in die Hand nehme um zu überlegen, ob ich dazu in der Lage bin, es lozulassen, frage ich mich „würde ich es mit nach … nehmen?“. Das macht das Ausmisten so einfach, denn im Zweifelsfall lautet die Antwort „nein“, denn mein Fantasie-Ziel hat nur wenige Quadratmeter. Es ist nur fiktiv und gleichermaßen ist es der Lauf des Lebens, denn wenn wir Glück haben, haben wir im Alter die Chance, unseren Wohnraum zu verkleinern (die meisten Menschen wehren sich mit Händen und Füßen dagegen, ihr Haus oder ihre Wohnung aufzugeben). Wer Pech hat, stirbt vorher. Und wer schon mal ein Haus oder eine Wohnung eines Angehörigen ausgeräumt hat weiß, wie wertlos die Sachen sind. Das, was stolz ins eigene Heim getragen wurde, wofür gespart wurde, die Spontankäufe und auch die lang ersehnten Wünsche. Am Ende ist es Plunder und dann Müll. Das ist wirklich tragisch. Wenn ich so am Ausmisten bin, dann versetze ich mich mich manchmal in die Rolle eines anderen Menschen, der meinen Plunder entsorgen muss. Das ist kein schönes Gefühl. Deswegen habe ich mir das Fantasie-Ziel ausgedacht, denn „zu etwas hin“ ist immer leichter als „von etwas weg“. Und wer weiß, vielleicht wird die Vision meines Fantasie-Ziels mit jedem Mäuseschrittchen konkreter oder wahrscheinlicher. Ich bin gespannt.
Dein Ausmisten hat mich auch zum Bücher-Aussortieren inspiriert. Ich hatte letztes Jahr schon mal angefangen, aber dann nach einiger Zeit aufgegeben. Aber jetzt mache ich auch in Mauseschrittchen weiter. Der gut funktionierende Gebrauchtbuchmarkt macht es auch leichter, finde ich. Die beiden zuerst erwähnten Bücher könnte man zb für 1,29 bzw. 1,88 nachkaufen, sollte man sie unbedingt nochmal besitzen wollen. Aber das ist wirklich höchst unwahrscheinlich.
Das freut mich, dass du jetzt auch wieder dabei bist. Ja, diese Wiederbeschaffungsmöglichkeit macht es sehr viel leichter, als z.B. das Weggeben eines Bowlen-Service mit speziellem Muster von Tante Hildegard. Es gibt ja so viele neue Bücher jedes Jahr. Eigentlich fühlt es sich total super an, diese lesen zu dürfen, weil man die alten nicht nochmal lesen muss. Trotzdem schaue ich gerne in die alten Bücher noch mal rein, bevor ich sie aussortiere, denn ich vermute einen Grund, wieso ich sie aufbewahrt habe und irgendwelche wertvollen Hinweise.
@meikesblog Das ist ein ganz ganz schöner Text! ❤️
@700Sachen @meikesblog ach Dankeschön 😍